Mittwoch, 9. Dezember 2009

Glück und Freiheit bedingen einander

Authentische Beschreibung einer Flucht im Jahre 1958 - Erstveröffentlichung

Meine Geburtsstadt Jena wurde 1945 zwar von amerikanischen Truppen eingenommen, dennoch fiel sie bei der folgenden Teilung Deutschlands unter die sowjetische Herrschaft.
Bald verschlug es meine Familie nach Lindow in der Mark Brandenburg, 70 Kilometer nördlich von Berlin.
In der Provinz mit den Ausläufern der Mecklenburgischen Seenplatte gestaltete sich das Leben bescheiden, die reizvolle Landschaft aber glich so manchen auch nachkriegsbedingten Mangel aus. Und für uns Kinder bot die Gegend ein paradiesisches Entdeckungsfeld.

Über allem jedoch lag eine diffuse Bedrohung durch die Besatzungsmacht, die ihre Präsenz täglich und überall unterstrich, begleitet von bekehrten deutschen Speichelleckern, welche die ruhmreiche Rote Armee als Helden verehrten.
In dieser politischen Stimmungslage leitete mein Vater ein privates Sägewerk, das im direkten Konkurrenzkampf mit einem weiteren volkseigenen Sägebetrieb wesentlich produktiver arbeitete. – Ein Dorn im Auge der Parteifunktionäre!

Es war die Zeit, als meine Mutter mehrere Ausgaben des „Neuen Deutschlands“ kaufte, um daraus Toilettenpapier zu schneiden, mein Vater beim Bürgermeister Beschwerden vortrug, weil es im HO-Laden wochenlang kein Salz oder Speiseöl gab. Es war die Zeit, als Menschen eingesperrt wurden, weil sie in West-Berlin Bleistifte und Radiergummis gekauft hatten. Und längst sagten Bürger dem kommunistischen Regime für immer Ade, indem sie ihr Hab und Gut, Verwandte und Freunde verließen, um im Westen neu zu beginnen.

Es stand fest, dass in diesem System keine Zukunft lag. Heimlich und mit beträchtlichem Risiko bemühte sich mein Vater um eine Arbeitsstelle in Westdeutschland, um bei einer Flucht nicht erst diverse Flüchtlingslager durchlaufen zu müssen. Die Familie hätte sofort eine Wohnung beziehen können.
Er hatte Erfolg mit einer Zusage in Himmelreich bei Kirchzarten.
Da nahm ihm im Januar 1956 auf einer Dienstfahrt mit dem Motorrad ein russischer Militär-Lastwagen die Vorfahrt, es folgte ein monatelanger Krankenhausaufenthalt. Die Stelle konnte nicht auf die Genesung warten.
Es galt, sich bis auf Weiteres dem Kommunismus zu beugen.

Jahrelang dauerte schon der Kampf um ausreichende Holzzuteilungen für das Sägewerk und brachte zunehmend gefährlichere Konflikte mit Partei- und Regierungsstellen. Zudem waren wir praktizierende Katholiken und wir Kinder wurden auch nach dringlichen Ermahnungen nicht bei den Jungen Pionieren angemeldet.

Im Jahr 1958 verfügten die Kommunisten das Ende der privaten Sägerei und boten stattdessen eine minder bezahlte Stelle im VEB-Sägewerk an. Für meine Eltern war dies im Herbst 1958 der Grund, erneut über eine konkrete Flucht nachzudenken. Das Fußball-Länderspiel Deutschland – Österreich am 19. November in Berlin kam meinem Vater für einen unverdächtigen West-Berlin-Besuch sehr gelegen. Er erfüllte mir einen großen Wunsch und nahm mich mit ins Olympiastadion. Noch vor Spielbeginn hatte er einen Termin beim damals Regierenden Bürgermeister von West-Berlin, Willy Brandt, was ich aber so nicht wahrnahm. Dieser Kurzbesuch sollte später noch von Vorteil sein.

Als nach Protesten sogar bei der Staatsregierung in Pankow gegen die Enteignung, beziehungsweise Stilllegung der Firma kein Sinneswandel zu erreichen war, gab schließlich in der Vorweihnachtszeit der Anruf eines Vertrauten in der Bezirksregierung Potsdam das Signal zu bedachtem Handeln.
Weihnachten sollte noch wie gewohnt gefeiert werden, einige Freunde wurden aber in die Fluchtpläne eingeweiht, sodass bei möglichster Risikominimierung schon manche Gegenstände aus der Wohnung einen neuen Besitzer hatten oder woanders „untergestellt“ wurden.

Meine jüngere Schwester und ich durften nichts davon merken, Weihnachten war für uns der übliche Höhepunkt des Jahres. Unsere frohe Stimmung steigerte sich noch durch die Ankündigung, wir würden alle an Onkel Willys Geburtstag zu Silvester nach Halle an der Saale reisen. Zuvor sollten wir Kinder noch zwei Ferientage bei Tante und Onkel in Oranienburg verbringen. Unser schon erwachsener Cousin Karl holte uns am 28. Dezember per Eisenbahn ab.

Ich stand voller Vorfreude abmarschbereit am Hoftor zur Rheinsberger Straße und wartete auf die anderen. Beim Blick auf den schönen neuen Jägerzaun, auf das Haus und das Sägewerk empfand ich eine innige Verbundenheit, wie einmalig doch unser Zuhause war. Ich legte meine Hand auf die neue Klinke des Zauntürchens und dachte, wie schrecklich es sein müsste, wäre das jetzt die letzte Berührung.
Ich war dreizehn.
Wir machten uns zu Fuß auf zum Bahnhof; es folgte ein abwechslungsreicher Aufenthalt in Oranienburg.
Unsere Eltern hatten nun freie Hand, letzte Angelegenheiten möglichst unauffällig zu regeln, sich innerlich von einem Lebensabschnitt zu verabschieden und den Freunden Lebewohl zu sagen.
Abends am 30. Dezember 1958 stießen sie zu uns und brachten auch die Fahrkarten nach Halle mit.

Wohnte man nördlich von Berlin, musste man mit der S-Bahn über West-Berlin zum Ostbahnhof fahren, von wo aus die Fernzüge in den Süden der Republik abgingen. Da unsere Eltern am nächsten Tag noch eine Kleinigkeit in Oranienburg besorgen wollten, sollten wir Kinder schon einmal mit einem früheren Zug zum Ostbahnhof vorfahren.

Der 31. Dezember 1958 war ein Mittwoch. In der Morgendämmerung gingen wir zum Bahnhof, wo die Eltern wie besprochen zurückblieben und wir, wieder mit Karl, den Bahnsteig betraten. Oranienburg ist eine S-Bahn-Endstation, also stand der Zug schon bereit. Wir nahmen in einem der menschenleeren Waggons Platz und warteten ungeduldig auf die Abfahrt, die sich jedoch lang und länger verzögerte.
Endlich ging es los – ein herrliches Gefühl. Nach und nach stiegen Leute hinzu, es wurde nach jeder Station lebendiger.
Dann hielt der Zug in Hohen Neuendorf *) , die Türen flogen auf und Kontrolleure durchkämmten alle Wagen. Karl musste sich ausweisen, denn der nächste Halt war in West-Berlin. Skeptisch betrachteten die Prüfer uns Kinder und wiesen uns an, den Zug mit Karl zusammen zu verlassen. Die Bahn rauschte ab, während wir in unfreundliche Räume geleitet wurden, wo man uns zunächst warten ließ. Dann wurde Karl in ein Nebenzimmer beordert und wir sollten erst einmal erzählen, wohin denn unsere Reise ginge. Eingeschüchtert, aber doch in Vorfreude berichteten wir von dem heutigen Geburtstag unseres Onkels in Halle, dass unsere Eltern nachkommen würden und zeigten unsere Fahrkarten vor. Alles wurde protokolliert. Irgendetwas gefiel den Vernehmern nicht, sie unterzogen uns einer Leibesvisitation, entdeckten aber nichts Außergewöhnliches.
Sie ließen uns frei, auch Karl überstand die Schnüffelei, zusammen bestiegen wir die nächste S-Bahn Richtung Westen.

Auf dem Bahnsteig Frohnau *) , der ersten Station in den Westsektoren, verzweifelten inzwischen unsere Eltern, denn sie hatten mit Karl vereinbart, dass wir uns alle hier treffen sollten: Keine Kinder zu sehen, es musste etwas schiefgegangen sein! „Ich muss umkehren,“ sagte unser Vater erschüttert, „ich muss mich stellen.“ Er war kreidebleich, doch unsere Mutter hielt ihn zurück: „Noch einen nächsten Zug warten wir ab.“
Nach endlosen Minuten zischten und quietschten die Bremsen und wir stiegen aus.

In den nachfolgenden Zügen wurde wahrscheinlich intensiv, aber vergeblich nach unseren Eltern gesucht, denn aufgrund der hohen Verspätung am Beginn unserer Fahrt waren sie unwissentlich in denselben Zug wie wir gestiegen, kamen folglich vor uns im Westen an.

Zur gemeinsamen Weiterfahrt zum Ostbahnhof rollte bereits die nächste S-Bahn ein. Kaum saßen wir, beschleunigte sie rasch und unserer Mutter kam über die Lippen: „Wir fahren nicht zurück.“ „Warum sollten wir?“ fragte ich, „wir wollen doch nach Halle.“
„Wir fahren nie wieder zurück.“
Da begriff ich, was geschehen war.
Ich blickte aus dem Fenster in das vorbeifließende Nichts, dachte an meine kleine Modell-Dampfmaschine, an meinen Stabilbaukasten, an die Weihnachtskrippe, an Freunde, an den See und an die Türklinke.
Als mir Tränen in die Augen stiegen, schaute ich auf einige Passagiere, denn ich schämte mich. Sie aber nickten verständnisvoll, denn auf diesen S-Bahn-Linien kannte man inzwischen solche Szenen.

Unser aktuelles Reiseziel hieß Berlin-Marienfelde, Notaufnahmelager.
Registrierungen in Warteschlangen, so viele gingen den gleichen Weg, ärztliche Untersuchungen, Anhörungen und Anträge bei deutschen und alliierten Dienststellen.
Es wurde Abend, man stattete uns mit etwas Taschengeld und Fahrscheinen aus zur Busfahrt durch die prächtigst beleuchteten Berliner Straßen zum Askanischen Platz, Flüchtlingslager „Henri Dunant“, in einem ehemaligen mehrstöckigen Fabrikgebäude.
Frauen und Männer wurden getrennt auf verschiedenen Etagen in großen Räumen mit doppelstöckigen Betten untergebracht. Der erste Tag in der Freiheit hatte uns ermüdet, wir schliefen bald ein, erwachten um Mitternacht vom Glockenläuten und Krachen der Silvesterfeuerwerke. Durch die riesigen Fabrikfenster schauten wir in einen engen dunklen Hof, hoch oben am Himmel symbolisierten einige dahinglühende Silvestersterne die Hoffnung auf ein anderes Leben.
Am Neujahrsmorgen waren die meisten Lagerbewohner verhalten glücklich im Bewusstsein, die Freiheit erlangt zu haben.

Manchmal dauerte es recht lange, ehe man „Henri Dunant“ wieder verlassen durfte, man hatte zwar Gelegenheit im Überfluss, sich schon einmal Berlin anzusehen, aber man hatte kein Geld und darüber hinaus das eine Ziel, so schnell wie möglich nach Westdeutschland ausgeflogen zu werden.
Jetzt zeigte wohl die vorbereitende Visite bei Willy Brandt Wirkung; wir erhielten alle erforderlichen Papiere und Ausweise erfreulich rasch, flogen Mitte Januar nach Frankfurt/Main und kamen weiter per Bahn nach Kirchzarten in ein Flüchtlingslager mit Massenunterkünften und Leuten vor allem auch aus Osteuropa. Bei einer erneuten ärztlichen Überprüfung prangte auf unseren Laufzetteln der Stempel „Entlaust“.

Nach weiteren Aufenthalten im Flüchtlingslager Schluchsee und im Flüchtlingswohnheim Donaueschingen endete die Odyssee in Geisingen bei Donaueschingen, wo mein Vater eine erste Arbeit und die Familie eine Wohnung fand. Es sollte dies jedoch nicht der letzte Wohnsitz bleiben.

Meine Eltern haben Lindow nie wieder gesehen.
Ich kam 1993 nach 34 Jahren erstmals zurück. Mir wurde eindringlicher denn je bewusst, wie Glück und Freiheit einander bedingen.

 *) In einem ersten Manuskript waren die nicht korrekten S-Bahn-Stationen Bornholmer Straße und Gesundbrunnen angegeben.

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